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Die inneren Ursachen

Die rauen Lebensbedingungen, welche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Wallis vorherrschen, müssen im Zusammenhang mit den grossen politischen, wirtschaftlichen, demografischen und ideologischen Veränderungen gesehen werden, die gleichzeitig stattfinden.
Die rauen Lebensbedingungen, welche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Wallis vorherrschen, müssen im Zusammenhang mit den grossen politischen, wirtschaftlichen, demografischen und ideologischen Veränderungen gesehen werden, die gleichzeitig stattfinden.

So geht die starke Zunahme der Geburten im Vergleich zur übrigen Schweiz wahrscheinlich mit einer Zerstückelung des Grundeigentums einher. Dieses Phänomen ist im Wallis besonders ausgeprägt und verstärkt sich von Generation zu Generation. Der Kanton hat gerade eine Kriegszeit hinter sich. Wie in anderen Gegenden haben diese Kriege eine weitere Schwächung der schwächsten Bevölkerungsschicht zugunsten einer neuen dominierenden Klasse zur Folge. Daraus ergeben sich eine Verknappung der Ressourcen, eine Verteuerung der Lebensmittel und eine starke Konzentration des Reichtums. Mit dem Aufschwung des internationalen Handels sinken aufgrund der Importe die Getreidepreise im Landesinnern. Dazu kommt noch eine Erhöhung der Gebühren, insbesondere auf Salz. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass die chronische Verschuldung und die zahlreichen Enteignungen im Wallis zeitlich mit den ersten Anzeichen für eine Auswanderung einhergehen. Aber die Auswanderung ist nicht das einzige Ventil in dieser schwierigen Situation: die Wut ist sowohl bei den Bauern als auch bei den Händlern im Unterwallis so gross, dass sich der Kanton zu Beginn der 1830er-Jahre am Rand einer politischen Spaltung und eines Volksaufstands befindet.

Die Walliser Auswanderung hat auch in den ideologischen und institutionellen Veränderungen einen günstigen Kontext vorgefunden. Wie in anderen Kantonen und Ländern hat die Revolution von 1798 auch im Wallis zu einer Verschiebung der Grenze zwischen Arm und Reich und zu neuen Formen der Ungleichheit geführt; insbesondere der aufkommende Individualismus und die Forderung nach Rentabilität haben zu einer schwindenden Solidarität innerhalb der traditionellen Gemeinschaften geführt. So bietet die Auswanderung auch eine rasche Lösung bei gewissen Situationen der Armut und Ausgrenzung an. Ausgestossene, junge Missetäter, von der Justiz verfolgte Personen, ledige Mütter oder Männer und Frauen, deren Moral von ihrem Umfeld als zweifelhaft angesehen wird, werden dazu angehalten, das Land zu verlassen und sich im Ausland niederzulassen, in der Hoffnung, dass sie nicht zurückkehren. Diese Praxis, die manchmal als «Abschiebung» bezeichnet wird, ist in vielen Fällen tatsächlich eine Form der erzwungenen Auswanderung. Aus verständlichen Gründen ist die Zahl dieser Fälle nicht genau festzustellen. Abgesehen von den Familien selbst finanzieren auch mehrere Gemeinden die Auswanderung von einzelnen unerwünschten Personen, um keine Sozialhilfe leisten zu müssen, obwohl die kantonale Gesetzgebung seit 1827 sie dazu verpflichtet. Diese Strategie gelangt insbesondere bei der Auswanderung nach Algerien im Jahr 1851 zur Anwendung und wird bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts weitergeführt. Die Einwanderungsstaaten protestieren oft gegen diese Praxis und treffen Massnahmen, um sie zu verhindern. Die kantonalen Behörden des Wallis wenden diese Praxis ebenfalls an, obwohl sie öffentlich abstreiten, dieses Vorgehen zu fördern oder gutzuheissen. Der Kanton muss nämlich Petitionen von Strafgefangenen behandeln, die lieber nach Übersee abgeschoben werden, als in Strafanstalten eingeschlossen zu sein. Sie verlangen die Umwandlung ihrer Haftstrafen in eine Auswanderung. Die Behörden genehmigen manchmal diese Umwandlung, wobei sie verlangen, dass die Antragsteller über genügend Geld für die Auswanderung verfügen. Deshalb müssen gewisse Personen wegen fehlender finanzieller Mittel ihre Haftstrafe absitzen, obwohl sie die Auswanderung vorgezogen hätten.

Die Verfassungen von 1839 und 1848 ändern nichts an dieser Praxis. Die wirtschaftliche und soziale Organisation des Wallis, verbunden mit ungünstigen demografischen und natürlichen Lebensbedingungen, führen dazu, dass der Kanton während mehr als eines halben Jahrhunderts ein Auswanderungsgebiet bleibt. Die Rhoneebene, deren erste Korrektion im Jahr 1863 beginnt, ist noch weitgehend unfruchtbar und wird regelmässig überschwemmt. Dreissig Jahre werden benötigt, um aus dieser Ebene eine Zone zu schaffen, die sich für eine intensive Landwirtschaft eignet. Die Industrialisierung setzt sich im Wallis erst im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert durch; sie ist verbunden mit einer grossen Zahl an mittellosen Arbeitern; zur selben Zeit kehrt sich die Migrationsrichtung im Wallis um: zwischen 1888 und 1910 ist die Einwanderung erstmals grösser als die internationale Auswanderung, obwohl diese noch bis zum ersten Weltkrieg weitergeht. Auch beim Handel macht sich im Wallis dieselbe Tendenz bemerkbar: der Export übersteigt den Import. Diese Tendenz fällt übrigens zusammen mit dem Phänomen der Auswanderung innerhalb der Schweiz, da die Entwicklung von Städten wie Lausanne und Genf für die Walliser Arbeiterschicht äusserst attraktiv erscheint.

Die Umkehr der Migrationsrichtung bei der Jahrhundertwende ist ebenfalls verbunden mit einer Änderung der Gründe, die zu einer internationalen Auswanderung führen. Es entwickelt sich die Auswanderungsform, die man als «Auswanderung zur Verbesserung des Lebensstandards» bezeichnen könnte. Die Walliser Familien suchen ihr Glück in Übersee, nicht unbedingt, um der heimischen Armut zu entgehen, sondern vielmehr, um bessere materielle Lebensbedingungen und ein grösseres Ansehen zu erhalten. Dieser Auswanderungsgrund hat zweifelsohne bereits bei den ersten Auswanderungen eine Rolle gespielt, ist jedoch wahrscheinlich aufgrund des negativen Beigeschmacks, der ihm anhaftet, unterbewertet worden. Die Behandlung dieses Auswanderungsgrunds durch die Walliser Presse zeigt dies eindrücklich auf. Sie geht besonders streng mit diesen Familien um, die sie als Deserteure darstellt, die besser dazu beitragen würden, ihr eigenes Land fruchtbar und einträglich zu machen. So entsteht die Figur des «guten Auswanderers», die ebenfalls diejenige des «guten Armen» ist. Sie ist voll von Gegensätzen, wenn man daran denkt, dass die wirklich armen Leute aus dem Wallis wahrscheinlich nicht über genügend Geld oder Güter verfügen, um ihre Auswanderung zu finanzieren.

Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts scheint die Auswanderung zur Verbesserung des Lebensstandards in breiten Kreisen akzeptiert zu sein und entspricht in einem Kanton, in welchem der Bezug zur Landwirtschaft beinahe einen sakralen Charakter besitzt, einem idealen Vorgehen, um Grundeigentum zu erwerben und wirtschaftlichen Erfolg zu erzielen, der mit der Perspektive eines sozialen Aufstiegs zusammenhängt. Diese individuellen Ambitionen werden durch zwei Phänomene von internationaler Bedeutung ermöglicht, welche sowohl die Migration als auch die Gesinnung dauerhaft prägen:

Einerseits werden zum Zeitpunkt, in dem die Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte die Auswanderung von Walliser Arbeitskräften nach Übersee übersteigt, die lokalen Arbeitsstellen, die von den einheimischen Arbeitern als minderwertig und erniedrigend empfunden werden, den eingewanderten Arbeitern überlassen. Das ist zum Beispiel der Fall für italienische Arbeitskräfte, die ab dem Ende des 19. Jahrhunderts in den Walliser Fabriken arbeiten und die Grundlage für die industrielle Entwicklung des Kantons legen. Dieses wirtschaftliche Privileg führt insbesondere zu einer Walliser Auswanderung, die eher in der freien Wahl als in der Notwendigkeit begründet ist.

Andererseits werden durch die Innenpolitik der Staaten in Übersee, in welche die Walliser und Europäer auswandern, den Weissen Privilegien gegenüber der einheimischen Lokalbevölkerung (Araber oder Berber in Algerien, Indianer in Argentinien und Chile) zugestanden. Obwohl zahlreiche Walliser Auswanderer mit äusserst prekären Lebensbedingungen zu kämpfen haben oder gar sterben, kann ihre Lage nicht mit der Situation der Bevölkerung, die unter der Herrschaft der Kolonialmächte zu leiden hat, verglichen werden. Die Walliser Siedler, insbesondere diejenigen, welche sich eine komfortable Stellung erarbeiten können, profitieren so in Argentinien und in Chile von den Hausdiensten der Mapuche. In Brasilien erhalten sie 1819 das Recht, afroamerikanische Sklaven zu halten. Die historischen Quellen enthalten wenige Details über die Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung, aber es ist davon auszugehen, dass diese Beziehungen für gewisse Siedler ein äusseres Zeichen der sozialen Überlegenheit im Vergleich zu ihrer Situation im Wallis darstellen.

In der Schweiz, die ein «Kolonialland ohne Kolonien» ist (Le Temps, 25.7.2015), bildet das Wallis keine «eigene Welt». Der Kanton ist auf seine Art in die internationalen Herausforderungen involviert, insbesondere bei der Neugestaltung der Beziehungen zwischen den europäischen Staaten und ihren ehemaligen Kolonien in Amerika oder ihren neuen Kolonien zum Beispiel in Afrika. Was für das 20. Jahrhundert gilt, ist ebenso für das vorangegangene Jahrhundert gültig. Ein Ausdruck kann diese Stellung des Wallis innerhalb der Welt illustrieren, wenn es um die beiden Phänomene der Migration im Inland und im Ausland geht: «Negerdorf». So werden zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Baracken der italienischen Arbeiter in Naters bezeichnet. Dieser Ausdruck bezieht sich auf die menschlichen Zoos, die zur selben Zeit in den Lunaparks in Europa und in der Schweiz ausgestellt werden. In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass nicht lange vor dieser Zeit Durchreisende und ausländische Ärzte die Bewohner der ländlichen Gebiete des Wallis als Wilde bezeichnen.

Referenzen 

Alexandre CARRON & Christophe CARRON, Nos cousins d’Amérique. Histoire de l’émigration valaisanne en Amérique du Sud au XIXe siècle (2 Bände), Siders, 1989 und 1990.

Gérald ARLETTAZ, « Les transformations économiques et le développement du Valais, 1850-1914 », in GROUPE VALAISAN DE SCIENCES HUMAINES (Hrsg.),  Développement et mutations du Valais, 1976, S. 9-62.

Gérald ARLETTAZ, « L’évolution du Valais (1815-1839). Aspects politiques, démographiques et économiques », in Le Valais.  De la tradition à la modernité. Formation continue des journalistes de Suisse romande, Lausanne, 1989, S. 3-18.

Eric MAYE, « L’émigration valaisanne en Algérie au XIXe siècle » in Annales valaisannes, 1997, S. 131-232.

Klaus ANDEREGG, « Ursachen und Anlässe der Walliser Auswanderung im 19. Jahrhundert », in Valais d'émigration.  Cahiers d’ethnologie 2, Sitten, 1991, S. 87-123.

Klaus ANDEREGG, « Auswanderung und Delinquenz. Das Abschieben von Walliser Strafgefangenen nach Amerika im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts », in Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 80 (1984), S. 183-200.

 

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Musées Cantonaux, 4350 2016/3 2/7
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